Rede von Pfarrer Remmele

Pfarrer Remmele, Foto: Jan Könen

Anlässlich der Demo „Für Menschlichkeit! Gemeinsam gegen Rechts!“ am 27.1. hat Pfarrer Rainer Remmele von der Regens-Wagner-Stiftung, Dillingen folgende Rede gehalten:

Liebe Zuhörerinnen, liebe Zuhörer!

Ein jüdischer Gelehrter stellt seinen Schülern eine Frage: „Wie kann man den Augenblick bestimmen, wo die Nacht zu Ende ist und der Tag beginnt?“ Die Schüler denken nach. Sie zerbrechen sich den Kopf.
Ein Schüler fasst sich ein Herz. „Ist es, wenn ich in der Ferne einen Feigenbaum von einer Palme unterscheiden kann?“ „Nein!“ antwortet der Rabbi. Ein zweiter Schüler hat einen Gedanken: „Ist es, wenn ich ein Schaf von einer Ziege unterscheiden kann? Ist das der Moment, an dem die Nacht zu Ende geht und der Tag beginnt?“ „Nein!“ antwortet der Rabbi. Die anderen Schüler schauen sich ratlos an.
„Aber wann ist denn der Augenblick gekommen?“ „Wenn du in das Gesicht eines Menschen schaust und wenn du in diesem Gesicht deinen Bruder oder deine Schwestern erkennst, dann bricht der Tag an! Doch bis dahin ist die Nacht noch bei uns!“

Seit Jahren, seit meiner Zeit als Jugendpfarrer, begleitet mich diese Geschichte. Wann wird es hell? Wann wird es licht in unseren Gedanken, in unseren Herzen, in unserem Miteinander? Wann sehen wir mehr? Wann sehen wir weiter? Wann kommen wir voran auf unseren Wegen des Mensch-Seins, des Mensch-Werdens, der Menschlichkeit? Wann erkennen wir wirklich wer wir sind, was es heißt „Mensch“ zu sein und was unsere Aufgaben hier auf dieser Erde sind? Die Antwort des Gelehrten ist eindeutig: Dann, wenn ich in all den Menschen, die mir begegnen, einen Bruder und eine Schwester sehe und erkenne.

Den Schlüssel zu so vielen Fragen und Problemen erhalten wir über das Geheimnis der Geschwisterlichkeit. Wir Menschen sind eine große Familie. Wir Menschen haben so viele Schwestern und Brüder auf dieser einen Welt. Alle Menschen sind unsere Geschwister. Wer dies sieht, wer dies so sieht, der bringt Licht ins Dunkel dieser Welt. Wer dies anders sieht, wer dies so nicht sehen kann oder sehen will, der verharrt im Dunkel, der bringt Finsternis und Nacht über diese Welt.

Wenn wir uns heute, am 27. Januar, an den Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz erinnern, wenn wir der Opfer der Nationalsozialisten gedenken, dann denken wir an die rabenschwarzen Tage, Monate und Jahre, die deren Terror- und Hass-Regime über unser Land, über Europa, über die ganze Welt gebracht haben. Die Nationalsozialisten dachten gar nicht daran, in den Menschen einen Bruder oder eine Schwestern zu sehen. Sie rissen die Menschheitsfamilie auseinander. Unmenschlich zerteilten sie die Geschwister dieser Welt In arisch und nicht arisch, in entartet und art-gerecht, in wertvoll und wertlos, in nützlich und unnütz.

Sie bestimmten, wer in diesem Land sein und leben durfte, sie bestimmten wer überhaupt am Leben bleiben durfte und wer nicht. Sie brachten Tod und unvorstellbares Leid über Millionen jüdischer Frauen, Männer und Kinder, über so viele Sinti- und Roma-Familien, über Menschen mit Behinderung und deren Angehörige und Freunde, über alle, die in den Augen des Regimes einfach „anders“ waren: die eine andere sexuelle Ausrichtung hatten, die eine andere politische Meinung vertraten, die ihr Fühlen und Empfinden in den unterschiedlichen Formen der Kunst anders zum Ausdruck brachten, die in den Augen der Herrschenden schlichte und einfach minderwertig waren.

Wer ein Herz hat, wer sich ein Herz fasst und heute in diesen Abgrund der Unmenschlichkeit unserer jüngsten Geschichte blickt, dem oder der wird es dieses Herz zerreißen.
Nie wieder!
Nie mit mir!
Nie bei uns!
Nie an irgendeinem Ort dieser Welt!

Pfarrer Rainer Remmele